Der Schrei im Domherrenhaus

Verden war an diesem nebligen Abend in der Stille gehüllt, die nur durch das entfernte Rauschen der Aller unterbrochen wurde. Im Herzen der Stadt, in der Nähe des historischen Domes, stand das alte Domherrenhaus – ein imposantes Gebäude, das von Geschichten und Geheimnissen umgeben war. An diesem Abend sollte es jedoch Zeuge eines Verbrechens werden, dessen Aufklärung einem ungewöhnlichen Helden zu verdanken war.


Ein ungewohnter Zeuge

Im Domherrenhaus lebte Herr Friedrich Klausen, ein älterer Mann, der vor vielen Jahren durch einen tragischen Unfall sein Augenlicht verloren hatte. Trotz seiner Blindheit war Herr Klausen ein scharfsinniger Beobachter der Welt um ihn herum. Er hatte ein feines Gespür für Geräusche entwickelt und kannte das Haus wie seine Westentasche. Der Abend war ruhig, bis plötzlich durch die Wände des alten Hauses ein erschreckender Schrei hallte – ein schreckliches, durchdringendes Geräusch, das die ruhige Atmosphäre durchbrach.

Herr Klausen, der im Wohnzimmer am Kamin saß, spürte sofort die Veränderung. „Das war ein Schrei“, murmelte er, als er sich an seinen Gehstock klammerte. „Jemand ist in Gefahr.“
Er versuchte, den Ursprung des Schreis ausfindig zu machen, indem er sich durch die dunklen Flure tastete. Der Schrei kam aus dem oberen Stockwerk, aus dem Bereich der ehemaligen Bibliothek, die jetzt als Archiv genutzt wurde. Herr Klausen hatte seit Jahren keine Menschen mehr dort gesehen und war sich sicher, dass der Schrei aus diesem Bereich gekommen war.

Die Zweifel der anderen

Als Herr Klausen die Polizei alarmierte und seine Beobachtungen schilderte, stießen seine Aussagen auf Skepsis. „Herr Klausen, sind Sie sicher, dass Sie sich nicht geirrt haben?“ fragte Hauptkommissar Becker, während er durch das alte Gebäude ging. „Es gibt hier keine Anzeichen für ein Verbrechen.“
Die Polizisten durchsuchten das Haus gründlich, fanden jedoch keine Hinweise auf ein Verbrechen – keine Blutspuren, keine offenen Fenster oder andere Beweise. Herr Klausen wurde als Opfer seiner eigenen Einbildung betrachtet, und die Polizei schloss den Fall als Fehlalarm ab.

Der schreckliche Skandal

Doch Herr Klausen konnte die Schreie nicht vergessen. Er beschloss, seine eigene Untersuchung fortzusetzen. In der Nacht hörte er erneut seltsame Geräusche aus dem oberen Stockwerk – es klang nach leisen Schritten und flüsternden Stimmen. Er wagte sich erneut nach oben, trotz der Gefahr, die er spürte. Diesmal entdeckte er, dass das alte Regal in der Bibliothek verschoben war und ein versteckter Zugang zu einem kleinen Raum freigelegt worden war.
Als er vorsichtig den geheimen Raum betrat, ertastete er eine verborgene Truhe. In der Truhe lag ein alter Brief, der offenbar von einem früheren Hausbewohner stammte. Was er da noch nicht wusste, der Brief enthüllte einen schrecklichen Skandal aus dem 19. Jahrhundert.

Die illegale Transaktion

Herr Klausen legte den Brief seiner Nachbarin Margret vor, die ihn vorlas. In dem Brief stand, dass das Domherrenhaus damals im Besitz der angesehenen Familie von Dr. Heinrich von Schulte war, einem einflussreichen Bankier und Philanthropen. Doch hinter der Fassade des Wohlstands verbarg sich eine dunkle Wahrheit. Dr. von Schulte war in eine illegale Transaktion verwickelt, bei der es um den Verkauf von gefälschten Kunstwerken und wertvollen Antiquitäten ging, die über seine Bank abgewickelt wurden.
Die Transaktion beinhaltete auch den Schmuggel von Kunstgegenständen und historischen Artefakten, die als geraubt galten. Diese Geschäfte wurden geheim gehalten, und die Beteiligten, darunter ein zwielichtiger Kunsthändler namens Viktor Lange, wurden streng überwacht. Als ein großer Teil der illegalen Transaktion gefährdet wurde, versuchte von Schulte, die Angelegenheit zu klären, indem er einander gefährdende Zeugen zum Schweigen brachte.
Einer dieser Zeugen war eine junge Frau namens Clara Baumann, die durch ihre Verbindung zum Kunsthändler zu viel wusste. Clara war eine begabte Künstlerin, die unwissentlich in den illegalen Kunsthandel verwickelt wurde. Als sie drohte, die Wahrheit aufzudecken, wurde sie in das Domherrenhaus gelockt und dort ermordet, um ihre Aussagen zu verhindern. Ihr Tod wurde als „Verschwinden“ verschleiert und nie aufgeklärt.

Der entscheidende Beweis

Mit diesen Enthüllungen konnte Herr Klausen die Polizei erneut alarmieren. Diesmal war das Interesse der Ermittler geweckt, als sie die detaillierten Beweise und die Aufzeichnungen im geheimen Raum untersuchten. Neben dem Brief fanden sie alte Dokumente, die die Verbindung zwischen Dr. von Schulte und Viktor Lange belegten, sowie die fälschlicherweise als verloren geglaubten Kunstwerke, die im geheimen Raum aufbewahrt worden waren.
Die Ermittlungen führten dazu, dass der Fall neu aufgerollt wurde. Die Polizei konnte alte Unterlagen auswerten und die Geschichte rekonstruieren. Die Verbindungen zu dem Kunsthändler wurden durch die gefundenen Artefakte und Dokumente verifiziert. Die Wahrheit über den Mord an Clara Baumann kam ans Licht, und ihre Familie erhielt endlich Gerechtigkeit.

Die Wahrheit ans Licht bringen

Die Stadt Verden ehrte Herr Klausen für seine Hartnäckigkeit und seinen scharfen Verstand. Das Domherrenhaus wurde restauriert, und die Geschichte des schrecklichen Skandals und der mutigen Clara Baumann wurde in einer Ausstellung gewürdigt. Das Gebäude wurde nun auch als Gedenkstätte für die Opfer des illegalen Kunsthandels und als Symbol für den unerschütterlichen Willen zur Wahrheit erhalten.
So endete die Geschichte von Herrn Klausen, der trotz seiner Blindheit und der anfänglichen Zweifel anderer das Geheimnis des Domherrenhauses aufdeckte und der Stadt Verden eine lange vergessene Wahrheit zurückbrachte.