In der kleinen Stadt Verden an der Aller, im 17. Jahrhundert, wehte oft ein kalter, feuchter Wind durch die Straßen. Das Scharfrichterhaus, ein düsteres Gebäude am Rande der Stadt, lag unheimlich still. Die Menschen gingen mit schnellen Schritten vorbei, mieden es, dort hinzuschauen, denn der Name des Mannes, der dort lebte, flüsterte durch die Gassen: Johann der Scharfrichter.
Johann war ein Mann, dessen Hände das Blut der Verurteilten trugen. Er vollzog die letzte, gnadenlose Gerechtigkeit, wenn das Gericht entschieden hatte, dass ein Verbrecher den höchsten Preis zahlen musste. Doch Johann war nicht nur ein Scharfrichter. In jener Zeit war sein Amt viel umfassender und düsterer. Er war auch derjenige, der verendete Tiere von den Straßen und Feldern der Stadt einsammelte und entsorgte. Er wurde als ein Paria betrachtet, unrein und mit einer Aufgabe betraut, die die Menschen noch mehr von ihm entfremdete.
Der Turm, ein festungsartiges Bauwerk nahe der Aller, diente als Gefängnis für all jene, die auf ihr Urteil warteten. Die meisten von ihnen wurden nie wieder gesehen. Es hieß, dass die Wände des Turms flüsterten – das Echo der Schreie und das Schluchzen derer, die einst dort gefangen waren. Manche Bewohner von Verden schworen, in stillen Nächten, wenn der Mond tief über den Feldern stand, die Stimmen der Toten aus dem Turm zu hören.
Doch es war nicht nur das Schicksal der Verurteilten, das Johann verfolgte. Es gab eine uralte Legende in Verden, die besagte, dass ein Scharfrichter niemals in Frieden sterben würde. Sein Blut würde mit den Seelen derer, die er getötet hatte, verflucht sein. In den letzten Monaten vor seinem Tod begann Johann, sich verändert zu verhalten. Die Dorfbewohner erzählten sich, dass er nachts oft in den Turm ging, manchmal sogar bei Sturm und Regen. Keiner wusste, warum er es tat. Einige vermuteten, er versuche, sich von den Geistern zu befreien, die ihn heimsuchten.
Eines Nachts, als ein besonders heftiger Sturm über Verden tobte, geschah das Unfassbare. Die Tore des Turms, die stets fest verriegelt waren, standen plötzlich offen. Ein unheimliches Licht leuchtete aus dem Inneren, und ein kühler Wind wehte durch die Straßen. Als die ersten Bewohner den Mut fanden, den Turm am nächsten Morgen zu betreten, fanden sie Johann, tot am Boden liegend. Sein Gesicht war verzerrt vor Schrecken, und seine Augen weit geöffnet, als hätte er in seinem letzten Moment etwas Furchtbares gesehen.
Man erzählte sich, dass es die Geister der Verurteilten gewesen seien, die ihn in den Wahnsinn trieben. Andere meinten, dass es die Seelen der Tiere waren, die er gnadenlos entsorgt hatte – gequälte Kreaturen, deren Seelen in der Dunkelheit auf Rache lauerten.
Seit jener Nacht wird gemunkelt, dass der Turm und das Scharfrichterhaus verflucht sind. Einige behaupten, Johann selbst gehe dort noch um. Nächtliche Wanderer wollen gesehen haben, wie er durch die Gassen schleicht, auf der Suche nach denen, die ihm einst entkommen sind – lebendig oder tot. Die mutigsten unter den Verdenern wagen es nicht, das Scharfrichterhaus nach Einbruch der Dunkelheit zu betreten, aus Angst, Johanns schattenhafte Gestalt dort zu finden, wie sie mit leerem Blick aus dem Fenster starrt und auf die nächste Seele wartet, die der Turm verschlingen wird.
So lebt die Legende des Scharfrichters von Verden weiter, ein dunkles Kapitel in der Geschichte einer Stadt, die von Blut, Angst und Vergeltung geprägt ist.