Das Flüstern des Todes
Es war eine neblige Herbstnacht in Verden an der Aller. Die Straßenlaternen warfen schwaches Licht auf die gepflasterten Gassen, während der Fluss leise dahinfloss. Kaum jemand war unterwegs. Die Stadt, sonst so belebt, schien in einen unnatürlichen Schlaf gefallen zu sein. Lena war auf dem Heimweg. Sie hatte Überstunden im Büro gemacht und nun drängte sie die Kälte, schneller zu gehen. Ihre Schritte hallten einsam durch die leere Altstadt. Plötzlich hörte sie ein Geräusch – ein leises Flüstern, das vom Wasser heraufzukommen schien. Sie blieb stehen, lauschte angestrengt, doch da war nichts außer dem sanften Plätschern der Aller.
Mit einem unbehaglichen Gefühl setzte sie ihren Weg fort, vorbei an der alten Domkirche. Die jahrhundertealten Mauern schienen im Dunst noch düsterer zu wirken als sonst. Als sie an der Kirche vorbeiging, sah sie im Augenwinkel eine Bewegung. Ihr Herz setzte einen Schlag aus. War da jemand?
Langsam drehte sie sich um. Nichts. Nur der Schatten der hohen Türme, der sich im flackernden Laternenlicht verzerrte. Lena atmete tief durch und sagte sich, dass sie sich nur einbildete, verfolgt zu werden. Sie ging weiter, den Blick fest auf die Straße gerichtet. Doch das Flüstern war wieder da. Diesmal lauter, fast wie eine Stimme, die ihren Namen rief.
„Leeenaaa…“
Ihr Magen zog sich zusammen. Panisch schaute sie sich um, aber die Gassen waren leer. Sie beschleunigte ihren Schritt, doch das Flüstern schien ihr zu folgen. Es kam näher, wurde klarer.
„Leeenaaa… du kannst nicht entkommen…“
In ihrer Angst begann sie zu rennen. Ihre Füße trommelten über das Pflaster, doch das Flüstern wich nicht von ihrer Seite. Es war überall, es umgab sie, schien aus den Mauern, aus der Erde zu kommen. Schließlich erreichte sie die Allerbrücke. Lena blieb keuchend stehen und sah zurück. Die Altstadt lag ruhig und still im Nebel.
Doch als sie den Fluss hinunterschaute, stockte ihr der Atem. Dort, direkt unter der Brücke, sah sie eine Gestalt im Wasser. Ein bleiches Gesicht starrte sie aus der Tiefe an, die Augen leer und tot. Eine kalte Hand griff plötzlich nach ihrem Knöchel, zog sie Richtung Brückenrand. Lena schrie, versuchte sich zu befreien, aber die eisigen Finger hielten sie fest.
„Du wirst mich nicht loswerden“, flüsterte die Stimme erneut. „Nicht hier, in Verden…“
Mit einem letzten Ruck riss Lena sich los und rannte, ohne zurückzuschauen, über die Brücke. Sie hörte das Flüstern noch lange hinter sich, bis sie endlich das Licht ihres Hauses erreichte. Erst als sie die Tür zuschlug und sich dagegen lehnte, spürte sie die unheimliche Präsenz verschwinden.
Doch selbst in den kommenden Tagen blieb Lena das Gefühl, beobachtet zu werden. Und jedes Mal, wenn sie in der Nähe des Flusses war, meinte sie, aus den Tiefen der Aller ein Flüstern zu hören – leise, aber unaufhaltsam.
„Leeenaaa…“
Lena konnte das Flüstern nicht mehr aus ihrem Kopf vertreiben. Selbst in den Momenten der Stille war es da, wie ein leises Echo, das sich in ihrem Verstand festsetzte. Jedes Mal, wenn sie an der Aller entlangging, spürte sie diese bedrückende Präsenz, als würde etwas im Wasser auf sie warten.
Eines Nachts, als sie schlaflos im Bett lag, hörte sie es wieder. Doch diesmal war es anders. Das Flüstern war klarer, näher. Ihr Herz begann zu rasen, als sie bemerkte, dass es nicht von draußen kam – es war in ihrem Zimmer. Langsam setzte sie sich auf, während das Flüstern ihren Namen zischte.
„Leeenaaa… komm zu mir…“
Mit zitternden Händen griff sie nach ihrem Handy, doch das Display blieb schwarz. Kein Licht. Kein Empfang. Nur das Flüstern, das jetzt direkt hinter ihr war. Sie drehte sich um, und ihr Blick fiel auf das Fenster. Der Nebel draußen hatte sich dichter zusammengezogen, als ob er die Stadt verschlingen wollte. Und mitten im Nebel stand eine Gestalt.
Es war das gleiche bleiche Gesicht, das sie in der Aller gesehen hatte – nur jetzt war es hier, direkt vor ihrem Fenster. Die Augen starrten sie leer an, und ein kaltes Lächeln legte sich auf die blassen Lippen.
Panisch wollte Lena aufspringen, doch ihre Beine versagten. Die Kälte, die sie spürte, kroch langsam durch den Raum, als würde das Wesen aus dem Nebel jeden Winkel ihrer Wohnung einnehmen. Sie konnte sich nicht bewegen. Ihre Kehle war wie zugeschnürt.
Das Flüstern war nun so laut, dass es ihren gesamten Kopf ausfüllte.
„Leeenaaa… du gehörst mir…“
Langsam begann das Fenster sich zu öffnen, obwohl kein Wind wehte. Die Gestalt trat lautlos ein, schwebend über den Boden, und bewegte sich mit unerträglicher Langsamkeit auf sie zu. Lena versuchte zu schreien, aber kein Laut kam über ihre Lippen. Die eiskalten Finger der Gestalt streckten sich nach ihr aus, und als sie ihre Haut berührten, spürte Lena, wie ihr Leben aus ihr wich.
„Du wirst nie mehr entkommen,“ zischte die Stimme, und in diesem Moment wusste Lena, dass sie Recht hatte. Mit einem letzten Blick auf das geisterhafte Gesicht versank alles um sie herum in Dunkelheit.
Am nächsten Morgen fand man Lena tot in ihrem Bett. Ihr Gesicht war bleich, ihre Augen weit aufgerissen vor Angst. Niemand bemerkte den schwachen Nebel, der sich im Zimmer sammelte – oder das leise Flüstern, das durch die Mauern hallte.
Die Aller hatte ihre nächste Seele geholt.