Es war ein nebliger Herbstabend, als Valeria beschloss, einen Spaziergang durch den Sachsenhain in Verden zu machen. Der alte Wald, der von den Einheimischen oft gemieden wurde, hatte etwas Mystisches an sich. Die knorrigen Eichen, die den Weg säumten, schienen in der Dämmerung zu flüstern, und der Nebel, der über den Boden kroch, verlieh dem Ort eine geheimnisvolle Atmosphäre. Valeria liebte diesen Ort.
Die Geschichte des Sachsenhains, in dem einst Tausende von Sachsen von Karl dem Großen hingerichtet worden waren, hatte sie schon immer fasziniert. Doch an diesem Abend lag eine besondere Spannung in der Luft. Ein leises Summen durchzog die Bäume, und die Dunkelheit schien dichter zu sein als sonst.
Als sie tiefer in den Hain vordrang, bemerkte Valeria ein schwaches Leuchten zwischen den Bäumen. Neugierig, wie sie war, folgte sie dem Licht, das in einem sanften Blauton pulsierte. Es führte sie zu einer kleinen Lichtung, die von alten Steinen umgeben war, die wie ein uralter Kreis aufgestellt waren. In der Mitte dieses Kreises lag ein großer, flacher Stein, auf dem ein seltsames Symbol eingraviert war. Valeria konnte nicht widerstehen. Sie trat näher, und das Leuchten intensivierte sich.
Das Symbol auf dem Stein begann, in einem tiefen, leuchtenden Blau zu glühen. Als sie es mit ihren Fingern berührte, spürte sie einen plötzlichen Energiestoß, der durch ihren Körper jagte. Der Boden unter ihr begann zu vibrieren, und die Luft um sie herum wurde schwer. Plötzlich veränderte sich alles um sie herum. Der Wald war verschwunden, und Valeria fand sich in einem weiten, finsteren Tal wieder. Über ihr spannte sich ein unheilvoller Himmel, durchzogen von dunklen Wolken, die von Blitzen erhellt wurden. Die Bäume, die das Tal umgaben, waren schwarz wie Kohle und ihre Äste schienen nach ihr zu greifen.
"Du hast den alten Pfad betreten," erklang eine Stimme aus den Schatten. Valeria drehte sich um und sah eine hohe Gestalt, die in einem schwarzen Umhang gehüllt war. Der Mann trat aus den Schatten und enthüllte ein blasses Gesicht mit tiefen, durchdringenden Augen, die sie fest im Blick hielten. "Wer bist du?" fragte Valeria mit bebender Stimme, während sie versuchte, nicht die Fassung zu verlieren. "Ich bin Wotan, der Hüter dieses Landes," sagte der Mann mit tiefer, bedrohlicher Stimme. "Du hast das Tor geöffnet, das seit Jahrhunderten verschlossen war. Die Seelen der gefallenen Sachsen rufen nach Gerechtigkeit, und du bist hier, um sie zu erlösen."Valeria spürte, wie ihre Angst wuchs, aber auch eine seltsame Entschlossenheit in ihr aufkeimte. "Was muss ich tun?" Wotan streckte die Hand aus, und aus dem Boden erhob sich ein Schwert, dessen Klinge aus glänzendem Silber gefertigt war. Es schien, als würde das Schwert selbst von einer inneren Kraft erfüllt sein.
"Dieses Schwert, genannt Irminsul, ist die einzige Waffe, die stark genug ist, um den Fluch zu brechen, der auf diesem Land liegt," erklärte Wotan. "Du musst den Schatten bezwingen, der das Herz des Waldes vergiftet, und die Seelen der gefallenen Krieger befreien."
Valeria nahm das Schwert in die Hand und spürte sofort die Macht, die von ihm ausging. Mit einem Gefühl des Unbehagens und der Entschlossenheit begab sie sich auf den Weg tiefer in das finstere Tal. Der Weg führte sie zu einer uralten Eiche, die sich von den anderen Bäumen abhob. Ihre Rinde war schwarz verbrannt, und aus ihren Zweigen tropfte ein dunkler, unheilvoller Saft. Unter der Eiche lag ein großer, schwarzer Wolf, dessen Augen in einem giftigen Grün leuchteten. Er war die Verkörperung des Fluchs, der über dem Sachsenhain lag, und als er Valeria erblickte, erhob er sich mit einem tiefen, bedrohlichen Knurren. Der Kampf, der folgte, war wild und unerbittlich. Der Wolf war schnell und stark, aber Valeria spürte, wie das Schwert sie führte, ihre Bewegungen beschleunigte und ihre Schläge präziser machte. Schließlich, mit einem letzten, mächtigen Hieb, durchdrang sie das Herz des Wolfes. Ein ohrenbetäubender Schrei erfüllte die Luft, als der Fluch gebrochen wurde und der Wolf in einem Wirbel aus Schatten und Rauch verschwand. Mit dem Verschwinden des Wolfs lichteten sich die dunklen Wolken, und das finstere Tal begann sich in einen lichten, grünen Wald zu verwandeln. Die Seelen der gefallenen Sachsen, die einst von Rache erfüllt waren, erhoben sich in den Himmel, frei von dem Fluch, der sie so lange gefangen gehalten hatte.
Valeria spürte, wie der Boden unter ihr zu beben begann, und in einem Augenblick fand sie sich wieder im Sachsenhain von Verden. Der Stein unter ihren Fingern war kühl und ruhig, und der Wald um sie herum war wieder so friedlich wie eh und je.
Doch etwas war anders. Die Luft fühlte sich klarer an, der Nebel hatte sich verzogen, und der Hain schien in einem neuen Licht zu erstrahlen.
Mit dem Wissen, dass sie eine uralte Dunkelheit besiegt und die Seelen der gefallenen Sachsen befreit hatte, verließ Valeria den Sachsenhain. Sie wusste, dass die Geschichte des Ortes für immer in ihrem Herzen lebendig bleiben würde.